Diskussion

Teil IV


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4.4 Exocytose, Degranulation und Koagulation der Haemolymphe

Schon bei der Beschreibung und Diskussion der Haemocytentypen wurde darauf hingewiesen, daß Grana von Plasmatocyten, Discoiden Haemocyten und Granulocyten zu Vakuolen anschwellen können. Die Vakuolen exocytieren dann ihren 'strukturierten' Inhalt. Dabei stellt sich die Frage, wozu sie das tun. Eine der wichtigsten Funktionen, die das exocytierte Material hat, mag die Koagulation, also die Haemostasis der Haemolymphe bei Verletzungen sein.

Nun ist die Haemolymphe-Koagulation der Chilopoden und Diplopoden aber vergleichsweise unauffällig. Nach der Haemolympheentnahme kann es Stunden dauern, bis die Wunde nicht mehr blutet. Um die sog. "cystocytes" herum wurden in füheren Untersuchungen (GRÉGOIRE 1970; RAVINDRANATH 1981) keine Präzipitation oder Koagulation von Proteinen beobachtet, darum wurde die Koagulation dem Typ IV zugeordnet. Die 'Cystocyten/Coagulocyten', also die bei Insekten die Koagulation auslösenden Haemocyten, wurden für Chilopoden schon von NEVERMANN (1989) und NEVERMANN et al. (1991) diskutiert und schließlich als Funktion der Plasmatocyten oder Discoiden Haemocyten und auch der Granulocyten erkannt.

Bei der Stabheuschrecke Clitumnus extradentatus wurde beobachtet, daß die Koagulation mit der Degranulation von Cystocyten beginnt. Kurz darauf sind auch Granulocyten an der Bildung von "islets of coagulation" beteiligt (Koagulationstyp I) (ROWLEY 1977). Die Ultrastruktur der beteiligten Haemocyten und der Exocytose von Grana/Vakuolen ist der bei Chilopoden sehr ähnlich. Aber bei den Insekten-Haemocyten schwellen außerdem die perinuklearen Zisternen an, das Plasmalemma reißt auf, und die Zellen zerfallen schließlich vollständig. Bei G. mellonella haben Granulocyten die Funktion von Coagulocyten und verhalten sich ganz entsprechend denen von C. extradentatus (ROWLEY & RATCLIFFE 1976 a). Auch bei Crustaceen und Xiphosuren sind die wichtigsten Komponenten der Koagulation offenbar in den Grana der Haemocyten lokalisiert, und auch hier gehen die Zellen nach der Degranulation zugrunde (DURLIAT 1991; JAKOBSEN & SUHR-JESSEN 1990; TOH et al. 1991).

Im Gegensatz zu den frühen Untersuchungen an 'Myriapoden'-Haemolymphe (GRÉGOIRE 1955, 1970; RAVINDRANATH 1973) wurde auch für L. forficatus die Bildung von sehr feinen, lichtmikroskopisch kaum sichtbaren, koagulierten Strängen sowie die Ultrastruktur der Exocytose von faserigem und tubulärem Material beschrieben (NEVERMANN et al. 1991). Die Bildung solcher Plasmastränge entspricht also dem Koagulationstyp II [cytoplasmatische Ausläufer, die an der Bildung dieser Stränge beteiligt sein sollen (GRÉGOIRE 1970) treten bei Chilopoden sicher nicht auf und scheinen eine Fehlinterpretation zu sein].

Die Vitalfärbung mit WGA-FITC zeigt nun bei beiden Chilopodenarten offenbar Sialinsäure- und/oder N-Acetyl-D-Glucose-haltige Glykoproteine in den umfangreichen Koagulaten. Die Zellen selbst werden dabei nicht markiert. In den fixierten Präparaten sind bei L. forficatus lange Stränge, in denen die Haemocyten verklebt sind, besonders auffällig. Das Material der Stränge wird in offenbar wenig polymerisierter Form von Plasmatocyten und Granulocyten aus den ebenfalls stark gefärbten Grana/Vakuolen exocytiert. Diese Ergebnisse passen sehr gut zu der Ultrastruktur der Zellen und Grana. Für Chilopoden ist damit zum ersten Mal gezeigt worden, daß auch hier die Haemocyten durch die Exocytose strukturierten Materials wesentlich zur Koagulation der Haemolymphe beitragen.

Bei Insekten ist kaum etwas über den Mechanismus der Haemolymphe-Koagulation, seine Komponenten und deren Vorkommen bekannt (HOFFMANN 1995). Bei Xiphosuren ist allerdings eine Aktivierungskaskade mit einer Reihe von Faktoren beschrieben worden, u.a. das Koagulogen ist in den Grana der "granular hemocytes" nachweisbar (TOH et al. 1991; IWANAGA 1993).

Ein Auslöser der Degranulation und der Koagulation bei Crustaceen und Xiphosuren ist LPS (DURLIAT 1991; IWANAGA 1993), und LPS-bindende Proteine wurden auch auf Insekten-Haemocyten nachgewiesen (PREIK-STEINHOFF et al. 1992; XU et al. 1995). Auch wenn bei den beiden Chilopodenarten keine Bindung des LPS-FITC an Haemocyten zu beobachtet war, ist ein LPS-Rezeptor mit einer Spezifität für einen anderen Serotyp nicht auszuschließen.

4.5 Pinocytose, Lysosomales Kompartiment

Die Pinocytoseaktivität der Haemocyten beider Chilopoden ist unter den Bedingungen der Spreitungspräparate sehr klein, denn die Fabstoffkonjugate waren nur in geringem Maße in Zellen nachweisbar. Auch Texas red-Albumin und TRITC-Albumin, die durch mögliche Adsorbtion an der Zelloberfläche stärker pinocytiert werden könnten (SWANSON 1989), werden nur schwach aufgenommen. Offenbar werden sie in den Vesikeln verändert, denn statt der den Farbstoffen entsprechenden roten traten einzelne schwache, gelb-grünliche Fluoreszenzen auf.

Die Inkubation mit LY führte wohl aufgrund der hohen Farbstoffkonzentration zu einer recht starken grün-gelben Fluoreszenz in kleinen und größeren Vesikeln und Vakuolen; die Verteilung der Färbung entspricht etwa der mit Neutralrot bei L. forficatus (NEVERMANN 1989). Aber der Farbstoff gelangt möglicherweise nicht nur, wie üblicherweise angenommen, per Pinocytose in die Zellen, sondern diffundiert in die geöffneten exocytotischen Vakuolen ein. Wenn solche Vakuolen sich wieder schließen, ohne ihren ganzen Inhalt abgegeben zu haben, werden sie zu fluoreszierenden Endosomen.

Die Färbung mit AO ist nicht unumstritten, denn sie kann zu einer Abkugelung von tubulären Lysosomen führen (KNAPP & SWANSON 1990). In länger als 15 min mit AO gefärbten L. forficatus-Haemocyten kommt es zu einer artefaktischen Ansammlung kleiner grünlich fluoreszierender Vesikel distal in Zellfortsätzen. Bei kurzen Färbezeiten (10 min) werden diese Kügelchen nicht beobachtet, doch meist traten auch nur wenige rote Fluoreszenzen auf. Dies kann an der kurzen Färbezeit liegen oder daran, daß die Zellen tatsächlich nicht über sehr viele 'saure' Kompartimente verfügen, in denen sich der Farbstoff akkumulieren könnte. Größe und kugelige Form der mit AO gefärbten Kompartimente unterscheiden sich nicht auffällig von denen nach LY-Färbung. Auch bei der LY-Färbung waren keine langgestreckten Lysosomen erkennbar. Hier kommt es offenbar nicht zu einer Formveränderung der Lysosomen durch osmotische Effekte, die mit der Akkumulation von AO zusammenhängen (KNAPP & SWANSON 1990).

Die AO-Färbung wurde auch eingesetzt, um die Fusion von Lysosomen mit Phagosomen zu beobachten. Während sich bei Mausmakrophagen schon innerhalb einer Stunde Lysosomen ringartig um Phagosomen angeordnet hatten und ihren fluoreszierenden Inhalt mit dem der Phagosomen fusionierten (HART & YOUNG 1975), waren bei den L. forficatus-Haemocyten ähnliche Strukturen erst am nächsten Tag erkennbar.

Eine gewisse Veränderung des Milieus in den Phagosomen war bei L. forficatus aber auch schon innerhalb einer Stunde nach Zugabe von Zymosan zu den AO-gefärbten Haemocyten deutlich. Offenbar schon länger im Phagosom liegende Partikel sind gelblich, erst kürzlich phagocytierte fluoreszieren schwächer grünlich, und ihre Zellwandbereiche haben noch keine Fluoreszenz angenommen. Erst am nächsten Tag werden in den Präparaten häufiger rötlich fluoreszierende Phagosomen gefunden. Dies zeigt, daß die Phagosomen mit der Zeit stärker angesäuert werden und mehr farbstoffbeladene Lysosomen mit ihnen verschmolzen sind.

4.6 Phagocytosen

Zwei verschiedene Prozesse der zellulären Immunreaktionen bei Arthropoden gegen in die Leibeshöhle eingedrungene kleine Fremdkörper können sofort nach dem Fremdkontakt auftreten: Phagocytose und Knötchenbildung. Bei der Elimination kleiner Mengen Bakterien wird der Phagocytose grössere Bedeutung beigemessen (GÖTZ 1982; CHRISTENSEN & NAPPI 1988), wohingegen große Mengen durch massive Knötchenbildung eingeschlossen werden (RATCLIFFE & GAGEN 1977; RATCLIFFE & WALTERS 1983).

In den in vitro-Versuchen mit L. forficatus und S. cingulata treten beide Prozesse auch mit nur wenigen Partikeln nebeneinander auf. Auch wenn L. forficatus-Haemocyten in vivo durch Injektion sehr vieler Partikel in das Haemocoel (500.000/0,1g) gereizt werden, bleibt die Phagocytose durch zirkulierende Haemocyten von großer Bedeutung. Zwei Stunden nach der Injektion sind in 3 bis 10 % der Haemocyten phagocytierte Partikel zu erkennen, freie Partikel sind selten (0-3%). Unter Berücksichtigung von Mehrfachphagocytosen ist in etwa 10% der Haemocyten im Mittel ein phagocytiertes Partikel vorhanden, bei einer durchschnittlichen Gesamthaemocytenzahl sind es also 4520/µl Haemolymphe. Nimmt man an, daß ein Lithobius von 0,1 g etwa 50 µl Haemolymphe enthält, wären gut die Hälfte der injizierten Partikel in flottierenden Haemocyten gebunden. Die restlichen Partikel sind wahrscheinlich in Knötchen eingeschlossen worden ist.

Elektronenmikroskopisch sind phagocytierte Micrococcus bei L. forficatus viel öfter zu beobachten als bei S. cingulata, wo die Bakterien meist nur in der Nähe von Haemocyten liegen. Bei L. forficatus werden phagocytierte und selbst in der Nähe von Haemocyten liegende Ml schnell lysiert, bei S. cingulata sind dagegen nach 3 h noch keine Lysis-Stadien von lMl weder in Haemocyten, noch in deren Nähe zu erkennen. Vergleichbar schwache lytische Aktivität gegenüber phagocytierten Ml zeigen auch die Haemocyten von Rhapidostreptus virgator (NEVERMANN & XYLANDER 1996). An der schnellen Lysis dieser grampositiven Diplokokken bei L. forficatus ist offenbar Lysozym beteiligt, denn die Dicke des Mureinsacculus wird deutlich reduziert. Entsprechend der bei Diplopoden (XYLANDER & NEVERMANN 1990) und S. cingulata schwächeren Lysozymaktivität ist auch die Lysis (der Bakterien) schwächer.

Bei beiden Chilopoden sind die Phagosomen oft mit einer elektronendichten Matrix gefüllt, die offenbar durch Fusion mit elektronendichten Lysosomen entstanden ist. Ähnliches wurde auch von Calliphora vicina-Haemocyten nach Phagocytose von E. coli beschrieben, wo sogar Ansammlungen von elektronendichten Lysosomen um die Phagosomen herum zu beobachten waren (ROWLEY & RATCLIFFE 1976 b).

Bei L. forficatus werden auch die gramnegativen Enterobacter cloacae - nicht aber E. coli - in solchen elektronendichten Phagosomen innerhalb einer Stunde lysiert. Die Bakterien verlieren dabei ihre innere Strukturierung, schwellen an und werden homogener elektronendicht. Der Vorgang der Lysis von Enterobacter cloacae entspricht dabei etwa dem von E. coli bei C. vicina (ROWLEY & RATCLIFFE 1976 b). An der Lysis dieser gramnegativen Bakterien sind wahrscheinlich außer den lysosomalen Enzymen und Lysozym noch weitere antibakterielle Substanzen beteiligt, deren Aktivität bei L. forficatus, Scolopendra oraniensis sowie bei Diplopoden gezeigt worden ist (XYLANDER & NEVERMANN 1990; VAN DER WALT et al. 1990).

Phagocytierte Bakterien werden unter Umständen von den Haemocyten nicht überwältigt, so daß die Haemocyten schließlich zerstört werden (CHAIN & ANDERSON 1982; Horohov & Dunn 1982, 1983). Bei L. forficatus sind z.B. defekte Haemocyten mit nicht lysierten E. coli beobachtet worden. Einige völlig intakt erscheinende Haemocyten mit Phagosomen wurden bei beiden (Chilopoden-)Arten von benachbarten Haemocyten selbst phagocytiert.

Auch bei Insekten gehört die Phagocytose von 'geschädigtem' eigenem Gewebe (z.B während der Metamorphose) zu den Standardaufgaben der Haemocyten (WIGGLESWORTH 1959), und auch die Phagocytose von havarierten Haemocyten durch andere Haemocyten ist beschrieben worden (SALT 1970): z.B. phagocytieren G. mellonella-Plasmatocyten überlastete Granulocyten (ROWLEY & RATCLIFFE 1976 a).

Die Haemocyten beider Chilopoden haben außer den Bakterien auch 'inerte' Partikel phagocytiert. Die Phagosomen mit diesen Partikeln unterscheiden sich von denen mit Bakterien darin, daß hier die Membranen den Partikeln immer sehr eng anliegen und lysosomales Materiel außer um die RRBC nicht zu erkennen ist. Mit den großen LB-16-Kugeln ist der Phagocytoseversuch oft mehr ein Spreiten auf einer Oberfläche als eine Phagocytose. Allerdings kann von einer einzigen Haemocyten eine sehr große fremde Oberfläche bedeckt bzw. phagocytiert werden. L. forficatus-Haemocyten, die im nativem Zustand bestenfalls einer Kugel von 10 µm Durchmesser entsprechen, können sich über etwa 1000 µm2 fremde Oberfläche spreiten!


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Copyright © 1996 Dr. L. Nevermann
[ Letzte Aktualisierung 29.07.00 ]