Diskussion

Teil VII


[Literatur]
[ vorherige Seite | Index  |  Zusammenfassung ]


4.7 Aggregation und Knötchenbildung

4.7.1 Spontane Aggregation der Haemocyten in vitro

Neben Exocytose und Phagocytose zeigen die Haemocyten der Chilopoden 'spontane' Aggregation, wenn sie in vitro genommen werden. Solche 'spontane' Knötchenbildung kommt sicher bei den meisten Arthopoden vor, wird aber nur selten berichtet. Z.B. beschreiben CLARE & LUMB (1994) die Koagulation der Haemolymphe bei dem Krebs Callinectes sapidus, die von den "hyaline cells" ausgelöst wird; die "large granule haemocytes" bleiben unverändert. Die Autoren gehen nicht auf die in ihrer Abbildung deutlich erkennbare Ansammlung der "large granule haemocytes" ein, die verblüffend genau mit der hier gezeigten übereinstimmt. Bei S. cingulata sind es die Discoiden Haemocyten, die in vitro degranulieren und dabei wohl auch Stoffe freisetzen, die Granulocyten anlocken. Im Prinzip entspricht dies der ersten Phase des Zweiphasenmodels der Knötchenbildung von RATCLIFFE & GAGEN (1977), das allerdings einen starken Stimulus durch zahlreiche Bakterien als Auslöser voraussetzt. RATNER & VINSON (1983) haben die 'spontane' Aggregation der Haemocyten bei Heliothis virescens genauer untersucht und machen Proteine als "encapsulation-promoting-factor" wahrscheinlich.

4.7.2 Stimulierte Aggregation und 'Kohäsion' der Haemocyten

Die stimulierte Aggregation muß sich nicht wesentlich von der 'spontanen' unterscheiden, aber es ist offenbar eine Frage des Stimulus, wie die Aggregation verläuft. Auch die 'spontane' Aggregation der Haemocyten tritt ja erst auf, wenn die Zellen Fremdkontakt hatten. Geklärt werden muß, was die Haemocyten als 'fremd' erkennen.

In der Einleitung ist darauf verwiesen worden, daß Evertebraten keine Immunglobuline besitzen und nicht zu spezifischer und zu erwartender Immunreaktion befähigt sind. Die Fremderkennung verläuft daher wahrscheinlich in Form einer 'Nichtselbst'-Erkennung. SALT (1970) sieht bei Insekten in der Basallamina die Struktur, die den Haemocyten das 'Selbst'-Signal vermittelt. Da aber Haemocyten keine Basalmenbran haben und ohne Stimulus keine 'Kohäsion' zeigen, wurde das 'Selbst'- bzw. 'Fremd'-Signal von verschiedenen Autoren in Oberflächeneigenschaften wie elektrischer Ladung und Hydrophobizität gesucht. Auf positiv geladene Oberflächen reagieren die Haemocyten von Heliothis (VINSON 1974) und Pseudoplusia (PECH et al. 1995) deutlich stärker als auf negativ geladene. Bei Schistocerca werden dagegen fast neutral und bei Periplaneta negativ geladene Oberflächen besser eingekapselt (LACKIE 1988), und EHLERS et al. (1992) konnten bei Galleria mellonella keinen Einfluß der Oberflächenladung auf die Phagocytoserate feststellen.

Da kaum eine Oberfläche im Experiment den physikochemischen Eigenschaften des jeweiligen 'Selbst' zufällig entsprechen dürfte, reagieren die Haemocyten in vitro auf fast jedes Substrat (Glas, LB-5, LB-16, RRBC, Cytodex 1) adhäsiv und mit Spreiten und/oder Degranulation. Als 'klebrige' Stoffe können dabei die PO oder Komponenten ihrer Aktivierungskaskade oder Komponenten der Haemolymphe-Koagulation mitwirken.

Die viel stärkere Aggregation in Präparten mit Bakterien kann damit erklärt werden, daß Haemocyten bestimmte lösliche Stoffe aus Bakterien als Alarmsignal erkennen: LPS (SÖDERHÄLL & SMITH 1986 a, b; HUGHES et al. 1991; SCHNEEWEISS & RENWRANTZ 1993), 'Endotoxin' (RATCLIFFE et al. 1984) und ß-1,3-Glucan (SMITH & SÖDERHÄLL 1983; BARRACCO et al. 1991) stimulieren die Haemocyten von Crustaceen, Insekten und Mollusken und lösen Degranulation und Spreiten aus. Für Krebse ist weiterhin gezeigt worden, daß ein 76 kDa-Protein der Haemolymphe parallel zur PO aktiviert wird (JOHANSSON & SÖDERHÄLL 1989 a; KOBAYASHI et al. 1990), das als Degranulations- und Anheftungsfaktor wirkt. Ein entsprechendes Protein gibt es auch bei Insekten (RANTAMÄKI et al. 1991). Der Degranulations- bzw. Anheftungsfaktor stimuliert bei Krebsen die in vitro-Kapselbildung um Glaskugeln (KOBAYASHI et al. 1990; s.a. SÖDERHÄLL & ASPÁN 1993).

Entsprechende Komponenten könnten auch die Chilopoden-Haemocyten bei ihrer Degranulation freisetzen. Darunter ist wahrscheinlich auch Lysozym, von dem kürzlich seine positiv chemotaktische Wirkung auf Haemocyten von Planorbarius bekannt wurde (OTTAVIANI 1991). Eine Reihe weiterer diffusibler Stoffe ist an der Haemocyten-Kommunikation bei Evertebraten beteiligt. Z.B. fördern Octopamin und 5-Hydroxytryptamin Phagocytose und Knötchenbildung bei Insekten (BAINES et al. 1992; BAINES & DOWNER 1994), Endorphine stimulieren die Zellmigration bei Mollusken (GENEDANI et al. 1994), und die Interleukine IL-1a und IL-1ß sowie die Tumornekrosefaktoren TNF a, TNF ß scheinen bei der 'Stress'-Regulation der Mollusken-Haemocyten beteiligt zu sein (OTTAVIANI et al. 1995).

Mit einer solchen Palette exocytierter und/oder in der Haemolymphe aktivierter Faktoren läßt sich erklären, daß die Haemocyten nach der Fremderkennung adhäsv und kohäsiv werden und sich die Aggregate mit wachsendem Stimulus vergrößern. Die besonders kompakten Aggregate mit Bakterien scheinen aber nicht ausreichend durch Chemotaxis (die eines Diffusionsgradienten bedarf), Chemokinese (die nicht gerichtet ist) oder die verklebenden Komponenten des PO-Systems bzw. der Koagulation erklärbar zu sein.

Zwei Indizien sprechen für einen Mechanismus, der unabhängig ist von einem diffusiblen, extrazellulären Signal: 1. das Verhalten der Haemocyten, die sich sehr dicht um benachbarte Haemocyten legen, die phagocytierte Fremdkörper enthalten, und 2. die Bildung von Lamello- und besonders Filopodien, mit denen die Zellen mit benachbarten Zellen Kontakt aufnehmen.

Dichte Aggregate von Haemocyten um andere herum wurden schon früher beschrieben (METALNIKOV 1924; HOLLANDE 1930; WIGGLESWORTH 1956) und mit einem Mangel an Membranbausteinen nach exessiver Phagocytose erklärt, der die Zellmembran verändert und die Zelle als beschädigt oder fremd charakterisiert.

Doch die Zellen haben vermutlich keinen Mangel, sondern vielmehr ein neues membranständiges Signal, das soviel bedeutet wie "hier anheften und spreiten!". Dieses postulierte 'Spreit'-Signal informiert bei Zellkontakt über den aktuellen Betriebszustand einer einzelnen Zelle. Ein solches aktiv gesetztes Signal würde gleichermaßen die Verdichtung der Aggregate (alle Zellen haben das Signal gesetzt), die Beendigung der Aggregation (die äußeren Haemocyten setzen das Signal nicht, weil sie nicht besonders gereizt sind) sowie schließlich das Abwandern von Haemocyten aus dem Aggregat erklären (Zellen im Knötchen bilden das Signal zurück, wenn kein besonderer Stimulus mehr vorhanden ist). Das Signal dient nicht der Informationsweitergabe über mehrere Zellen hinweg.

LACKIE (1988) formuliert in ihrem umfassenden Review-Artikel zum Verhalten der Haemocyten eine ähnliche Vorstellung und verwirft diese gleich zugunsten zweier weiterer. Eine einzige Zelle würde ja in Gefahr sein, eine Aggregation auszulösen. Diese Gefahr bestünde aber nicht; die Zelle würde phagocytiert werden: Es gibt also keinen Grund, einen der (unten) angeführten Punkte auszuklammern.

In diesem Zusammenhang sind auch die Lamellopodien und Filopodien zu verstehen, die frei in das umgebende Medium ragen bzw. chemotaktisch(?) auf benachbarte Zellen gerichtet sind. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht zu den Filopodien am Rand von 15 Tage alten Kapseln im Cölom von Nereis diversicolor (PORCHET-HENNERÉ et al. 1987). Beobachtungen von LOCKE (1987) an verschiedenen Insektengeweben haben gezeigt, daß nach Entfernung der Basallamina Filopodien sehr wichtig für Orientierung und Zusammenhalt der Zellen sind. Die Filo- und Lamellopodien erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Zell-Zell-Kontakts bei dem dann das 'Spreit'-Signal vermittelt würde.

JOHANSSON & SÖDERHÄLL (1989 b) haben für den Krebs Pacifastacus leniusculus gezeigt, daß die kleine Aminosäurensequenz RGD (= Arginin-Glycin-Asparaginsäure) den 76 kDa-Zelladhäsions-Faktor immitiert. Untersuchungen an der Raupe von Pseudoplusia includens zur Kapselbildung kommen zu entsprechenden Ergebnissen (PECH & STRAND 1995).

RGD ist die Erkennungsdomäne von Zelladhäsionsmolekülen (z.B. Fibronectinen), die von Zelladhäsionsrezeptoren (Integrinen) der Vertebraten spezifisch erkannt wird. Moleküle mit fibronectin-artigen Eigenschaften sind auch bei der Perlmuschel Pinctada fucata (SUZUKI & FUNAKOSHI 1992) und Drosophila (GRATECOS 1988) beschrieben worden. Auch wenn diese Moleküle wohl nicht mit denen der Vertebraten zu homologisieren sind, ist doch gezeigt worden, daß klassische Zelladhäsionmoleküle und integrinartige Rezeptoren bei Zellinteraktionen der Evertebraten eine Hauptrolle spielen. Ein solches RGD-haltiges Molekül wäre als 'Spreit'-Signal hervorragend geeignet.

4.7.3 CFDA-Markierung

Die Stabilität der gebildeten Knötchen und Kapseln wird durch Cytoskelettelemente und Zellkontakte erhöht. Bei Thermobia domestica (FRANÇOIS 1974) und bei Blattella germanica (HAN & GUPTA 1989) sind die Haemocyten in Kapseln durch septierte Desmosomen miteinander verankert. Eventuell dienen spezielle Zellkontakte auch der Zell-Zell-Kommunikation. Gap junctions, die zwischen den Haemocyten von Kapseln nicht nur bei Insekten (BAERWALD 1975; HAN & GUPTA 1989; GUPTA 1991), sondern auch besonders deutlich bei Nereis diversicolor ausgebildet werden (PORCHET-HENNERÉ et al. 1987), sollen einen Infomationsfluß zwischen den Haemocyten ermöglichen.

In den Knötchen von Chilopoden sind bislang keine besonderen Zellkontakte erkannt worden, auch nicht in älteren Kapseln von L. forficatus (NEVERMANN 1989). Bei Insektenhaemocyten etablieren sich dagegen Gap junctions innerhalb von nur 3 min zwischen den Haemocyten (CHURCHILL et al. 1993). Diese Gap junctions waren mittels Patch-clamp-Technik und mittels Transfer von CF (nach Inkubation in CFDA) nachweisbar. Entsprechende Farbstofftransfer-Versuche mit L. forficatus- und S. cingulata-Haemocyten in Spreitungspräparaten blieben aber ohne Erfolg. Trotz offensichtlicher Zellkontakte kam es auch nach mehr als 80 min nicht zum Farbstofftransfer zwischen den Haemocyten. Für die Chilopoden wird damit das Fehlen von Gap junctions bei der frühen Zell-Zell-Interaktion bestätigt.


[Literatur]
[ vorherige Seite | Index  | Zusammenfassung ]

Copyright © 1996 Dr. L. Nevermann
[ Letzte Aktualisierung 29.07.00 ]