Diskussion

Teil II


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4.2 Haemocyten

4.2.1 Klassifikationen und Definitionen

Daß im 'Insektenblut' Zellen enthalten sind, war schon SWAMMERDAM (1637-1680) bekannt. Im Lauf der Zeit sind sehr viele Haemocytenformen beschrieben worden, aber erst durch die Arbeiten von WIGGLESWORTH (1959), JONES (1962), ROWLEY & RATCLIFFE (1981), BREHÉLIN & ZACHARY (1986) und DRIF & BREHÉLIN (1993) ist - unter z.T. kontroverser Diskussion - die Zahl der Typen auf 6-9 reduziert worden. Während die Terminologie der Haemocyten von Chelicerata (SHERMAN 1981) und Insekten kompatibel geblieben ist, wird bei den Crustaceen (BAUCHAU 1981) eine andere verwendet.

Bei der Klassifikation der Chilopoden-Haemocyten wird auf die für Insekten entwickelte zurückgegriffen. Dies ist auch schon von RAJULU (1970), RAVINDRANATH (1973, 1981) und NEVERMANN et al. (1991) einmal unter der Annahme einer recht nahen Verwandtschaft von Insekten und 'Myriapoden' getan worden; zum anderen lassen sich die Haemocyten der 'Myriapoden' meist gut mit denen der Insekten vergleichen. Allerdings mußte aufgrund besonderer Eigenschaften eines Haemocytentyps, den es bei Insekten nicht zu geben scheint, der der "Discoiden Haemocyte" neu eingeführt werden.

Die Verwendung bestimmter Namen für bestimmte Haemocytentypen beansprucht nicht, daß diese mit von anderen Autoren gleich oder ähnlich benannten Typen tatsächlich homolog sind. Soweit aber Entsprechungen gefunden wurden, werden diese im folgenden angemerkt. Die Diskussion um die Klassifikation von Haemocytentypen der Arthopoden soll mit einem Zitat von LACKIE (1988) beendet werden:

"Classification of insect haemocytes is an issue that stimulates an instantaneous loss of good manners and an induction of bad temper at any conference on insect physiology or immunity. The subject has been reviewed several times and will not be discussed here; instead, the reader is referred to the basic classification scheme outlined by Rowley and Ratcliffe (1981). Other schemes have also been proposed by Gupta (1979) and Brehélin and Zachary (1986)."

4.2.2 Prohaemocyten

Für Insekten wird allgemein angenommen, daß Prohaemocyten Stammzellen sind, aus denen sich die anderen Haemocytentypen differenzieren (LACKIE 1988). Die Prohaemocyten der Chilopoden entsprechen den Vorstellungen von der Prohaemocyte der Insekten: Die Zellen sind klein, meist sphaerisch (bei S. cingulata gelegentlich auch fusiform) und ihr Kern-Cytoplasma-Verhältnis ist hoch. Grana sind noch nicht entwickelt, aber die Zellen haben mehr freie Ribosomen und rER als die anderen Zelltypen. Im Gegensatz zu Insekten-Prohaemocyten sind von denen der Chilopoden keine Mitosen bekannt. Zwar sind von S. morsitans (RAJULU 1971) und L. forficatus (s. Plasmatocyte) Mitosen beschrieben worden, doch von Zellen, die größer als Prohaemocyten sind. Wo die Prohaemocyten herkommen und ob und wie sich andere Haemocytentypen aus ihnen entwickeln, ist nur sehr unzureichend untersucht (RAVINDRANATH 1981).

4.2.3 Plasmatocyte

Typische Plasmatocyten, wie sie schon von NEVERMANN et al. (1991) für L. forficatus beschrieben wurden, fehlen bei S. cingulata. Degranulierte Granulocyten und Discoide Haemocyten können aber einer Plasmatocyte ähnlich werden. RAJULU (1971) spricht Haemocyten von S. morsitans zwar als Plasmatocyten an; diese sind aber mehr den Discoiden Haemocyten von S. cingulata oder fusiformen Prohaemocyten vergleichbar.

Die L. forficatus-Plasmatocyte entspricht gut der Plasmatocyte von Periplaneta americana (ROWLEY & RATCLIFFE 1981; RATCLIFFE 1982). Doch nach DRIF & BREHÉLIN (1993) müßte sie der "GH 1" ("granular haemocytes 1"), "GH 2" oder auch der "GH 3" entsprechen, könnte also in deren System nicht eingeordnet werden. Die Beobachtung, daß einige L. forficatus-Plasmatocyten in vitro sehr schnell vakuolisieren, legt die Vermutung nahe, daß sie funktionell Coagulocyten/Cystocyten sind. In den Spreitungspräparaten sind die anfänglich heftigen Reaktionen (Vakuolisierung und Exocytosen) dieser Haemocyten wohl abgeklungen, die nunmehr gespreiteten Zellen werden als Plasmatocyten angesprochen. Auch die gespreiteten Plasmatocyten bilden noch große Vakuolen und exocytieren weiterhin strukturiertes Material (s. auch NEVERMANN et al. 1991).

Die Stabilität der Plasmatocyten ist offenbar stark von ihrer Umgebung abhängig. In den Abbildungen von GRÉGOIRE (1970) treten defekte Zellen auf, die von RAVINDRANATH (1981), der die Abbildungen zitiert, als Cystocyten bezeichnet werden. NEVERMANN (1989) hat gezeigt, daß solche Cystocyten Präparationsartefakte sein können.

Ist die L. forficatus-Plasmatocyte lichtmikroskopisch in Spreitungspräparaten recht eindeutig anzusprechen, wird ihre Charakterisierung im TEM-Bild schwieriger (NEVERMANN et al. 1991). RAVINDRANATH (1981) hält sie für nicht von Granulocyten unterscheidbar.

L. forficatus-Plasmatocyten enthalten zwar weniger Grana als Granulocyten, aber deren Ultrastruktur ist sehr ähnlich. Beide Zelltypen sind PO- und Px-aktiv (Plasmatocyten etwas weniger), und beide wurden vom Anti-Lysozym-AK markiert. In diesen Merkmalen unterscheiden sie sich also nur graduell.

Überraschend ist die Beobachtung von mitoseaktiven Plasmatocyten. Für Insekten werden Plasmatocyten-Mitosen nur selten beschrieben, z.B. bei Galleria mellonella (NEUWIRTH 1973).

4.2.4 Discoide Haemocyte

Dieser Haemocytentyp kommt nur bei S. cingulata, nicht aber bei L. forficatus vor. Sein besonderes Merkmal ist das ausgeprägte, äquatoriale Mikrotubulibündel. Dieses und die dazugehörige discoide Zellform sind offenbar bei Evertebraten selten (oder nicht) als Merkmalskombination beobachtet worden, so daß Haemocyten nicht danach benannt wurden. Die beschriebene Form scheint jedoch charakteristisch genug, einen neuen Namen zu rechtfertigen.

Dabei sind Mikrotubuli (auch in Bündeln) in der Ultrastruktur der Insektenhaemocyten häufig. Äquatorial und ringförmig angeordnete Mikrotubulibündel sind aber nur selten als charakteristische Merkmale bestimmter Haemocytentypen beschrieben und analog zu ähnlichen Bündeln z.B. bei Thrombocyten und Erythrocyten der Vertebraten diskutiert worden. Wahscheinlich liegt das daran, daß solche Zellen instabil und in den Spreitungspräparaten nicht mehr erhalten oder deformiert sind. Zum ersten Mal beschrieben BAERWALD & BOUSH (1970) in Haemocyten von Periplaneta americana ringförmig angeordnete Mikrotubuli. Später wurden sie auch bei Blattella germanica (HAN & GUPTA 1988, 1989) und Leucophaea maderae (HAGOPIAN 1971; FENOGLIO et al. 1993) erkannt. Weitere Beschreibungen ringförmiger Mikrotubulibündel kennt man sonst bei Arthopoden nur noch von den Pfeilschwanzkrebsen Limulus polyphemus (TABLIN & LEVIN 1988) und Tachypleus tridentatus (JAKOBSEN & SUHR-JESSEN 1990), von Crustaceen (COHEN et al. 1983) und nun auch von den Granulocyten von L. forficatus. Daß die Form der Zellen im wesentlichen von den ringförmigen Mirkrotubulibündeln bestimmt wird, scheint weitgehend Konsens zu sein (z.B. BEHNKE 1970). Noch ungeklärt ist, inwieweit der Microtubuliring auch an der heftigen Degranulation und Verformung solcher Zellen beteiligt ist (TABLIN & LEVIN 1988).

Die Discoide Haemocyte ist in vitro instabil: sie vakuolisiert, exocytiert und schnürt Cytoplasmafragmente ab. Sie scheint die erste Haemocyte zu sein, die auf einen Fremdkontakt reagiert. Auf die von ihr abgegebenen Stoffe reagieren die Granulocyten mit Aggregation. Wahrscheinlich wird auch die Gerinnung der Haemolymphe durch das exocytierte Material, das offenbar die Monomere liefert, ausgelöst. In dieser Hinsicht entspräche die Discoide Haemocyte der Plasmatocyte von L. forficatus und den "Coagulocyten" der Insekten ("coagulocyte" oder "hyalin hemocytes" bei GRÉGOIRE & FLORKIN 1950 und GRÉGOIRE 1970; "cystocyte" bei ROWLEY & RATCLIFFE 1981; "GH1" bei Drif & Brehélin 1993). Wegen der Art der Degranulation und Fragmentierung besteht auch große Ähnlichkeit mit der Granulocyte von Tachypleus tridentatus (JAKOBSEN & SUHR-JESSEN 1990) und mit der "hyaline cell" von Callinectes sapidus (CLARE & LUMB 1994 ).

Die Discoiden Haemocyten haben kaum PO-Aktivität, werden aber durch den Anti-Lysozym-AK markiert. Unter Berücksichtigung der mutmaßlichen Funktionen dieser Zellen und ihrer Zusammenarbeit mit den Granulocyten bei der Knötchenbildung, erscheint dies als sinnvolle Arbeitsteilung. Schon beim ersten Fremdkontakt würde Lysozym freigesetzt. Eventuell dient Lysozym hier nicht nur als antibakterielle Substanz. OTTAVIANI (1991) hat für die Schnecke Planorbarius corneus gezeigt, daß Lysozym auf deren Haemocyten als Chemoattraktanz wirkt! Womöglich übt das Lysozym der Discoiden Haemocyten bei S. cingulata eine ähnliche Wirkung auf die Granulocyten aus.

4.2.5 Granulocyten

Aufgrund der vielen membrangebundenen und elektronendichten Einschlüsse, die einen großen Teil des Zellenvolumens einnehmen, ist die Bezeichnung Granulocyte [= "granular cells" bei Rowley & Ratcliffe (1981); "granular haemocytes" bei RAVINDRANATH (1981)] einleuchtend und kaum umstritten. DRIF & BREHÉLIN (1993) befürworten dagegen eine Gliederung in "GH 1", "GH 2" und "GH 3"; die Chilopoden-Granulocyte scheint ihrer "GH 1" oder "GH 2" zu entsprechen.

Die Granulocyten beider Chilopoden haben eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten: 1. ein in vitro sich schnell veränderndes äquatoriales Mikrotubulibündel, 2. viele elektronendichte Grana, mit z.T. tubulär strukturiertem Inhalt, 3. Vakuolen, deren Inhalt aus den Grana stammt und exocytiert wird, 4. Phagocytosen, 5. maßgebliche Beteiligung an der Knötchenbildung, 6. ein großes Lamellopodium in Form eines Cytoplasmaschweifes, in dem aktinartiges Cytoskelett erkennbar ist, 7. spreiten sie sich oft nicht so stark, sondern bleiben kompakt und 8. sind sie PO- u. Px-aktiv.

In einigen Punkten unterscheiden sie sich aber auch deutlich: 1. ist das Mikrotubulibündel in Granulocyten von S. cingulata stabiler, während das von L. forficatus in Spreitungspräparaten und Knötchen nicht mehr vorhanden ist, 2. haben sie bei S. cingulata mehr Grana als bei L. forficatus, 3. sind bei L. forficatus Typ 2-Grana seltener erkennbar, 4. werden nur L. forficatus-Granulocyten deutlich mit dem Anti-Lysozym-AK markiert, 5. sind bei S. cingulata die Grana PO-negativ, während bei L. forficatus auch PO-positive vorkommen.

Zu den verschiedenen Grana-Typen der Chilopoden-Granulocyten (Typ 1: homogen elektronendicht; Typ 2: fein strukturiert elektronendicht; Typ 3: grob strukturiert; Typ 4: 'schaumig') gibt es bei Insekten-Haemocyten einige Analogien. Viele Autoren beschreiben dort Grana, die dem Typ 1 entsprechen. Der Grana-Typ 2 wird in den "adipohémocytes" und der Typ 3 in den "granulocytes" des Engerlings von M. melolontha dargestellt (DEVAUCHELLE 1971). Auch die Grana der "granular cells" von Galleria mellonella (ROWLEY & RATCLIFFE 1976 a; SCHMIT & RATCLIFFE 1977) entsprechen den Typ 2- und Typ 3-Grana der Chilopoden.

Die Entstehung der Grana findet bei M. melolontha (DEVAUCHELLE 1971), G. mellonella (ROWLEY & RATCLIFFE 1976 a; SCHMIT & RATCLIFFE 1977) und bei Tenebrio molitor (STANG-VOSS 1970) wie auch bei Tachypleus tridentatus (JAKOBSEN & SUHR-JESSEN 1990; TOH et al. 1991) und bei den Chilopoden in unmittelbarer Nähe des Golgi-Komplexes statt; z.T. konnten direkte Verbindungen dargestellt werden. Bei den Insekten sind die Grana schon bei ihrer Entstehung strukturiert, werden dann elektronendicht, und erst vor der Exocytose lockern sie wieder auf und schwellen an. Bei den Chilopoden werden nur elektronendichte Grana in enger Beziehung zum Golgi-Komplex beobachtet. Tubuläre Strukturen traten erst in großen (reifen?) Grana (Typ 2) auf. Werden die Zellen exocytoseaktiv, gehen die Typ 2-Grana sukzessive in den Typ 3 über, schwellen dabei zunehmend an, um schließlich zu Vakuolen zu werden, die faseriges Material enthalten, das schließlich exocytiert wird.
Damit entspricht die gesamte Entwicklung der Grana bis hin zur Exocytose ziemlich genau der von Insekten und Xiphosuren.

Der andere Vakuolentyp der Chilopoden-Granulocyte, dessen Inhalt ebenfalls exocytiert werden kann, geht nicht aus Grana hervor, sondern wahrscheinlich aus erweiterten rER-Zisternen. Eine vergleichbare Beschreibung liegt wiederum von G. mellonela-Granulocyten vor. Hier werden die rER-Zisternen nicht direkt mit der Vakuolenbildung, sondern mit der Granaproduktion in Zusammenhang gebracht (ROWLEY & RATCLIFFE 1976 a).

4.2.6 Sphaerulocyte

Sphaerulocyten, wie sie von L. forficatus in dieser Arbeit und früher von NEVERMANN et al. (1991) beschrieben worden sind, kommen bei S. cingulata nicht vor. Die Rolle dieser Zellen bleibt nach wie vor unklar, denn sie sind wahrscheinlich nicht an den hier untersuchten Abwehrreaktionen beteiligt.

Die Sphaerulocyten haben aber eine Reihe von Eigenschaften, die sie als eigenständigen Haemocytentyp charakterisieren: 1. haben sie nur kugelförmige, elektronendichte Grana, 2. sind sie PO- u. Px-negativ, 3. bindet der Anti-Lysozym-AK nicht an sie, 4. scheinen sie höchstens zufällig in Knötchen eingebettet zu sein, 5. sind sie - von einzelnen Ausnahmen abgesehen - phagocytose-passiv, 6. spreiten sie sich nur wenig, 7. sind sie in vitro stabil, und 8. zeigen sie keine Exocytoseaktivität.

Die von RAVINDRANATH (1981) in Abb.11 gezeigte "granular haemocyte" von L. forficatus ist sicher eine typische Sphaerulocyte.

Licht- und z.T. auch elektronenmikroskopisch gleichen sie den "spherule cells" von M. melolontha und G. mellonella (DRIF &BREHÉLIN 1993), obwohl die Zellen dort mehr abgeflacht (gespreitet?) erscheinen, bei L. forficatus dagegen ovoid bleiben. Auch sind bei diesen Insekten die 'Spherulen' der Zellen oft erheblich größer als in den Sphaerulocyten von L. forficatus.

4.2.7 Coagulocyten?

In Anbetracht der Eigenschaften der L. forficatus-Plasmatocyten und der Discoiden Haemocyten von S. cingulata gibt es keine Notwendigkeit, zusätzlich einen Zelltyp "Coagulocyte" oder "Cystocyte" zu definieren. Sicher gibt es bei beiden Tieren Zellen, die in einer fremden Umgebung degranulieren und fragmentieren. So könnte man die Discoiden Haemocyten und viele Plasmatocyten als Coagulocyten oder Cystocyten bezeichnen. Aber ebenso müßten dann zuweilen auch Granulocyten so genannt werden. Doch damit würden die Charakteristika der Haemocytentypen eher verdeckt werden. In den Spreitungspräparaten wurden auch in früheren Arbeiten (NEVERMANN 1989; NEVERMANN et al. 1991) keine Zellen gefunden, die sich so verhalten wie die "cystocytes" von GRÉGOIRE (1970) und RAVINDRANATH (1981).

4.2.8 'Adipohaemocyte'

Diese Zellen sind vermutlich gar keine Haemocyten; sie könnten flottierende Fettkörperzellen (s. PRICE & RATCLIFFE 1974) oder bei der Haemolympheentnahme aus dem Gewebe gerissen worden sein. Für echte Haemocyten treten sie zu selten und zu unregelmäßig auf. Daß diese Zellen, wenn sie tatsächlich aus einem Gewebeverband stammen, sich dennoch spreiten, widerspricht dem nicht. Zellen verschiedener Insektengewebe können nach Entfernung ihrer Basellaminae rasch Filopodien bilden (LOCKE 1987). Ultrastukturell gleichen die Einschlüsse der 'Adipohaemocyten' denen der "eleocytes" von Gomphadorhina (SCHARRER 1972).


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Copyright © 1996 Dr. L. Nevermann
[ Letzte Aktualisierung 29.07.00 LN ]